Melanchthon als „Praeceptor Europae“ (Lehrer Europas)
Das Humanismusbild des 19. Jahrhunderts wurde durch Studien wie Die Kultur der Renaissance in Italien (1869) von Jacob Burckhardt geprägt. Das Mittelalter war demnach eine Zeit des Verfalls und konnte erst mit der humanistischen Bewegung durch die Wiederentdeckung der antiken Bildung überwunden werden.
Dieses Geschichtsbild ist im 20. Jahrhundert korrigiert worden. Einerseits zeigte die mediävistische Forschung ein lebendiges Bild bedeutender wissenschaftlicher und kultureller Leistungen seit dem hohen Mittelalter. Andererseits wurde der eigentliche Beitrag der Humanisten für die Kulturgeschichte der Neuzeit immer deutlicher: Als nach dem Fall von Konstantinopel im Jahr 1453 viele griechische Gelehrte Richtung Westen flohen, inspirierten sie zugleich die lateinische Welt zur Übersetzung und Kommentierung klassischer Schriften der Antike. Die humanistischen Gelehrten edierten in der Folgezeit nicht nur lateinische Autoren wie Cicero und Seneca, sie machten die westliche Welt auch mit den vollständigen Werken eines Platon oder Aristoteles bekannt. Dies hatte großen Einfluss auf die abendländische Wissenschaft und Kultur in der frühen Neuzeit.
Philipp Melanchthon hat mit seinen Kommentaren zu klassischen Autoren einen eigenen Beitrag zur Wiederentdeckung der antiken Kultur für die wissenschaftlichen und politischen Diskurse seiner Zeit geleistet. Seine Publikationen waren in vielen Ländern Europas bekannt. So wurde beispielsweise Melanchthons Rhetorik schon 1532 ins Englische übersetzt. Aus den humanistischen Diskursen stammt auch die Rede vom gemeinsamen „Haus Europa“ – ein Ausdruck für die Überzeugung, dass die europäischen Völker bei aller Verschiedenheit eine gemeinsame kulturelle Herkunft und Identität haben.
- Melanchthon und England
Shakespeare konnte auf die Lehrbücher Melanchthons auch in englischen Übersetzungen zurückgreifen. Im 16. Jahrhundert wurden über 20 Werke Melanchthons von verschiedenen englischen Gelehrten in die Volkssprache übertragen. Vorlesungen über Schriften Melanchthons sind von den Universitäten in Cambridge, Eton und Oxford überliefert.
Melanchthon wurde so auch zum „Praeceptor Angliae.“ Gerne hätte König Heinrich VIII. den Universalgelehrten nach England berufen. Noch 1553 bot die Universität Cambridge Melanchthon eine Professur an, mit der Zusicherung der Krone, ihm 100 englische Pfund als Reisekosten zukommen zu lassen. Melanchthon hat dieses Angebot wie weitere Offerten aus dem Ausland stets abgelehnt. Er hielt der Universität Wittenberg bis zu seinem Tod die Treue.
- Melanchthon und Italien
Die Druckausgabe von Melanchthons Wittenberger Antrittsrede Über die Studienreform vom August 1518 gelangte schon im Dezember desselben Jahres nach Italien. Mit dem Fortgang der Reformation wuchs die Nervosität der römischen Papstkirche. Melanchthons Werke kamen auf den Index der verbotenen Bücher. In zahlreichen Inquisitionsprozessen galt ihr Besitz als Beweis der Häresie. Melanchthon blieb trotzdem im 16. Jahrhundert auf dem italienischen Schwarzmarkt für Bücher einer der meistgefragten Autoren.
Die Wittenberger Theologie lernten die italienischen Anhänger der Reformation durch Melanchthons Loci Communes kennen, die auch ins Italienische übertragen wurden. Viele Gelehrte lobten die erste evangelische Glaubenslehre als „fonte dolce e pura“, als „süße und reine Quelle“. Weitere Werke Melanchthons wie der Traktat Über die Autorität der Kirche und das Chronicon Carionis wurden ebenfalls aus dem Lateinischen in die romanische Volkssprache übersetzt.
Lilio Gregorio Giraldi würdigte in seiner Literaturgeschichte De poetis nostrorum temporum (1551) sogar den Dichter Melanchthon als einen hervorragenden Autoren Deutschlands, wenngleich er auch die protestantische Glaubenshaltung und Denkweise des Wittenberger Gelehrten streng kritisierte.
Viele italienische Anhänger der Reformation flohen vor der Verfolgung durch die römische Kirche in die Schweiz, hier vor allem nach Basel. Einige Glaubensflüchtlinge gelangten sogar bis nach Wittenberg und waren zeitweise zu Gast im Haus Melanchthons. Trotz Verfolgung durch die Inquisition und konfessioneller Spaltung konnte der Kontakt von Wittenberg nach Italien nie vollkommen unterdrückt werden.
- Melanchthon und Skandinavien
Das heutige Skandinavien bestand im 16. Jahrhundert aus zwei Monarchien: Schweden-Finnland und Dänemark-Norwegen-Island. König Christian III. von Dänemark führte nach 1536 in seinem Herrschaftsgebiet in enger Zusammenarbeit mit Wittenberg die Reformation ein. Neben der Bibel und der Postille Luthers waren hierfür die Schriften und Lehrbücher Melanchthons die wichtigste Grundlage. Nach seinen Vorstellungen wurde nicht nur die Kirchenlehre reformiert. Auch die Lateinschulen und die Universität Kopenhagen wurden neu organisiert. An der theologischen Fakultät der dänischen Hauptstadt waren Vorlesungen über die Loci Communes ein fester Bestandteil der Ausbildung für die angehenden Pfarrer in Dänemark und Norwegen.
Melanchthon wurde dadurch zum maßgebenden Schultheologen des skandinavischen Luthertums. Zum „Praeceptor Scandinaviae“ wurde er auch durch den Unterricht skandinavischer Studenten in Wittenberg. Im Lauf des 16. Jahrhunderts studierten allein 680 Dänen in der Elbestadt.
Eine besondere Wirkung entfaltete Melanchthons Universalchronik im Norden Europas. Die skandinavische Geschichtsschreibung hat aus dem Chronicon Carionis, das 1532 erstmals erschien und den Bogen über die Erschaffung der Welt bis ins 16. Jahrhundert spannte, viel gelernt. In zahlreichen Ausgaben, Übersetzungen und Bearbeitungen wurden die Erzählstrukturen und das Schema einer Weltgeschichte in vier Zeitaltern übernommen. Die Frühgeschichte der Welt wurde vielfach einfach plagiiert.
Der erste evangelische Bischof Islands wurde 1542 in Kopenhagen ordiniert. Mit auf die Reise in die dänische Hauptstadt nahm er zwei Werke aus der Feder Melanchthons, die Confessio Augustana und die Loci Communes, die er auch fern der Heimat für seine theologische Arbeit nutzen wollte. 1558 wurde in Kopenhagen dann die erste isländische Glaubenslehre auf der Basis von Melanchthons Loci gedruckt. Sie diente nach der Einführung der Reformation auf der Insel im Norden Europas vorwiegend dem Unterricht für angehende Pfarrer. Der Übersetzer pries in seiner Vorrede ausdrücklich den „hochgelehrten Doktor und Lehrmeister“ aus Wittenberg. Melanchthons lateinische Grammatik und sein Logik-Lehrbuch fanden ihren Weg in die Schulen Islands, wo sie noch bis ins 18. Jahrhundert als Standardwerke genutzt wurden.
- Melanchthon und Ungarn
Schon früh gelangten Schriften Luthers und Melanchthons nach Ungarn. Auch königliche Erlasse, die den Lutheranern Vermögensenteignungen und sogar die Todesstrafe androhten, konnten die Verkündigung der reformatorischen Lehre nicht unterbinden. Träger der ungarischen Reformation gegen den Widerstand staatlicher und kirchlicher Obrigkeiten waren Pfarrer, Studenten und städtische Ratsherren. Vor allem ungarische Studenten verbreiteten reformatorische Ideen in ihrer Heimat, 430 haben seit 1521 die Vorlesungen Melanchthons an der Universität Wittenberg besucht. Jakob Heerbrand erwähnte in seiner berühmten Gedenkrede von 1560 ausdrücklich die ungarischen Scholaren unter den Schülern Melanchthon aus vielen Ländern Europas:
Ihn zu hören strömten sie, von seinem Ruhm angezogen, aus allen Gegenden Deutschlands herbei, sogar aus fast allen Provinzen und Reichen Europas, aus Frankreich, England, Ungarn, Siebenbürgen, Polen, Dänemark, Böhmen, selbst aus Italien, ja aus Griechenland.
Melanchthon nahm die meist sehr gut lateinisch sprechenden Studenten aus Ungarn teilweise sogar in seinem eigenen Haus auf. Da sie dem deutschsprachigen Gottesdienst nur mit großen Schwierigkeiten folgen konnten, legte der Wittenberger Professor speziell für sie an jedem Sonntag auf Latein die Bibel aus. Melanchthons lateinische Sonntagsvorlesungen wurden dann auch über den Kreis seiner ungarischen Studenten hinaus sehr beliebt.
In Ungarn selbst avancierte Melanchthon zum meist gedruckten ausländischen Autor. Zur Klärung theologischer Differenzen zwischen Lutheranern und Reformierten fanden vor allem seine Schriften zur Abendmahlslehre eine weite Verbreitung. Seine Confessio Augustana war im September 1545 die Grundlage der Beschlüsse auf der Synode von Erdöd. Eingang in das ungarische Schulwesen haben seine lateinische und griechische Grammatik und sogar eine Gedichtsammlung gefunden.
- Melanchthon und Frankreich
Philipp Melanchthon war in Frankreich bekannter als Luther. Er stand im Briefwechsel mit dem berühmten Humanisten Guillaume du Bellay und mit dessen Bruder Jean, dem Bischof von Paris. Er korrespondierte sogar mit Königin Margarethe von Navarra, der Schwester König Franz I. Melanchthons Werke wurden auch in Paris und Lyon gedruckt, teilweise in eigens übersetzten französischen Ausgaben. Für den bekannten Drucker und Verleger Étienne Dolet gehörte Melanchthon zu den unsterblichen Heroen des Geistes.
Was aber waren die Gründe für die hohe Wertschätzung Melanchthons in Frankreich? Melanchthon hatte zunächst ein hohes Renommee als Humanist und Philologe: als Kommentator griechischer und lateinischer Klassiker, als Verfasser griechischer und lateinischer Grammatiken sowie als Autor zahlreicher Lehrbücher über Rhetorik, Dialektik oder Philosophie. Allein Melanchthons lateinische Grammatik wurde in der Pariser Druckerei Robert Estiennes von 1526 bis 1532 in fünf Auflagen publiziert.
Melanchthon war zudem die ökumenische Hoffnung vieler europäischer Zeitgenossen. Ihm wurde zugetraut, das Gespräch zwischen Katholiken und Protestanten voranzubringen und eine dauerhafte Spaltung der Kirche abzuwenden. Margarethe von Navarra schrieb über ihn:
Dieser gute und heilige Mann, ganz Gott ergeben und sehr friedliebend, der den heftigen Leidenschaften Luthers und Zwinglis abgeneigt ist und der sich nichts mehr wünscht, als den großen Streit der Konfessionen zu schlichten.
Philipp Melanchthon ist ab 1534 sogar als Gutachter für Franz I. von Frankreich tätig geworden, der mit den protestantischen Fürsten Deutschlands eine Allianz eingehen wollte. Auf die königliche Bitte hin formulierte er mögliche Annäherungspunkte zwischen Protestanten und Katholiken. Die gemeinsame Basis für einen Dialog sollte nach Melanchthon neben der Bibel die Tradition der Apostel und katholischen Kirchenväter sein. König Franz I. schickte dem Wittenberger Gelehrten schließlich am 28. Juni 1535 einen Einladungsbrief für eine Disputation an der Pariser Sorbonne. Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen verbot Melanchthon jedoch aus politischen Erwägungen eine Reise nach Frankreich. Eine weitere Chance für den Dialog war vertan. Der Wittenberger Professor trat mit dem französischen König noch einmal im Jahr 1541 in Briefkontakt. Dieses Mal setzte er sich bei Franz I. für die Freilassung inhaftierter Waldenser in der Region Grenoble ein.
Der Franzose Johannes Calvin (1509 – 1564) hatte 1536 seine Institutio religionis christianae (einen Katechismus evangelischer Wahrheit) veröffentlicht. Philipp Melanchthon stand mit dem führenden Genfer Reformator seit einer persönlichen Begegnung im Jahr 1539 im Briefkontakt und fühlte sich mit dessen Denken eng verbunden. Eine Verständigung zwischen den Wittenberger und Genfer Theologen scheiterte jedoch an der Abendmahlsfrage und der Vorsehungslehre.
Insgesamt gesehen ist Melanchthons Einfluss als Humanist und Vermittlungstheologe in Frankreich wie in England kaum zu unterschätzen. Der französische Humanist Joachim du Bellay nannte Melanchthon einen „vir sapiens patriae“ (einen weisen Mann des Vaterlandes). Über seine Kommentare zu fast allen wissenschaftlichen Disziplinen wirkte Melanchthon in den calvinistischen Ländern bis nach Nordamerika.